Vernehmlassung: Bei gemeinsamer elterlicher Sorge die alternierende Obhut fördern

 
Vernehmlassungsantwort als PDF

Gerne beteiligen wir uns an der Vernehmlassung zur parlamentarischen Initiative Kamerzin «Bei gemeinsamer elterlicher Sorge die alternierende Obhut fördern», die der Bundesrat am 24. Juni 2025 eröffnete und bedanken uns für die Möglichkeit teilzunehmen.

alliance F ist der überparteiliche Bund der Schweizer Frauenorganisationen. Wir vertreten die Interessen von rund 100 Mitgliederorganisationen und rund 1’000 Einzelmitgliedern und setzen uns seit 125 Jahren für die Interessen der Frauen und für die Gleichstellung der Geschlechter ein. Mit dieser Stellungnahme äussern wir uns zum Gesetz aus der Gleichstellungsperspektive: alliance F betrachtet die Umsetzung der genannten parlamentarischen Initiative als ein im Grundsatz anzustrebendes, gutes Modell. Das geltende Recht, bei dem bei ca. 85–90 % der Kinder einem Elternteil die Obhut zugeteilt wird (in der Regel der Mutter), während der andere Elternteil ein übliches Besuchsrecht erhält, spiegelt das veraltete Ernährermodell einer Familie wider, bei welchem der Vater erwerbstätig ist und die Mutter sich um die Kinder kümmert. Dies ist für die wirtschaftliche Sicherheit und die tatsächliche Gleichstellung von Frauen hinderlich. Dazu kommt, dass dieses Modell in der Schweiz immer seltener gelebt wird. Deswegen sind wir der Meinung, dass die alternierende Obhut zwar im Grundsatz anzustreben ist, aber nicht in jedem Fall funktioniert. Daher plädieren wir dafür, dass jeder Fall einzeln betrachtet werden muss.

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Grundsätzliche Haltung von alliance F: Differenzierte Stellungnahme

Die Kommission stellt zwei Umsetzungsvarianten zur Diskussion: Wir bevorzugen ganz klar Variante 1, welche mehr Flexibilität in der Entscheidung und eine intensivere Prüfung der Eignung der Eltern sowie des Kindeswohls vorsieht. Die Komplexität der alternierenden Obhut muss in der Debatte berücksichtigt werden:

  • Trennungssituationen bergen für Frauen ein besonderes Risiko: Drohungen, Stalking und Gewalt – in manchen Fällen sogar lebensgefährlich. Empirische Untersuchungen zeigen, dass das Risiko von Gewalt und Tötung in der Trennungsphase für Frauen und Kinder deutlich höher ist als sonst: Eine Vielzahl der Tötungsdelikte wird im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt in Trennungssituationen begangen. Gewaltausübende Väter erlangen nach der Trennung immer wieder auf institutionellem Weg Kontrolle über ihre Ex-Partnerin - beispielsweise über eine alternierende Obhut. Es ist demnach essenziell, dass die zuständige Behörde in der Lage ist, gewaltvolle Beziehungen zu erkennen, auch wenn diese oft nicht sichtbar sind: Viele Frauen haben Angst davor, ihre Situation offenzulegen, entweder aus Scham, Angst vor Vergeltung oder aus Angst, nicht geglaubt zu werden. Aus diesem Grund sprechen wir uns gegen Variante 2 aus. Eine starre Umsetzung der alternierenden Obhut könnte dazu führen, dass potenziell mehr Frauen und Kinder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Es braucht demnach eine stärkere Kontrolle des Wohls von Müttern und Kindern sowie Flexibilität. alliance F begrüsst daher, dass die Variante 1 keinen Automatismus einführen will und ein egalitäres Betreuungsverhältnis nicht als zwingendes Modell vorsieht.

  • In einer idealen Welt ist das alternierende Modell wünschenswert. Aber in der Realität gibt es diverse psychosoziale und materielle Hürden, die eine flächendeckende Umsetzung erschweren oder gar verunmöglichen: Es benötigt z.B. zwei genügend grosse Wohnungen in der Nähe derselben Schule und entspricht häufig auch nicht dem Betreuungsmodell, das vorher gelebt wurde. Wir unterstützen Variante 1, denn wir sind der Überzeugung, dass Eltern und Kinder, die eine alternierende Obhut bevorzugen, von einer prüfenden Behörde unterstützt werden sollten. Wir haben jedoch Bedenken, was Variante 2 angeht: Eine Verpflichtung bringt finanzielle oder organisatorische Schwierigkeiten mit sich. Diese würden dem Wohl des Kindes und der Eltern schaden. Das Gesetz muss realen Lebensumständen (z.B. finanzielle Situation, berufliche Verpflichtungen, Distanz zwischen Wohnorten) Rechnung tragen, statt sich an einem Ideal zu orientieren. Variante 2 erweist sich diesbezüglich als zu starr.

  • Zudem gibt es immer wieder Fälle, wo die alternierende Obhut verlangt wird, damit Väter weniger Unterhaltszahlungen leisten müssen. Wir halten daran fest, dass die alternierende Obhut kein Mittel sein darf, um finanzielle Unterstützung von Müttern zu umgehen. Auch wenn laut BFS 83 % der Mütter in der Schweiz erwerbstätig sind, gibt es strukturelle Gründe, weshalb Frauen weniger verdienen und somit auf Unterhaltszahlungen angewiesen sind. Das gilt auch, wenn das Kind gleich viel Zeit bei beiden Eltern verbringt. Laut wissenschaftlichen Studien haben Frauen mit Kindern nach einer Scheidung im Durchschnitt eine Einkommenseinbusse von 38 %. Die Ursachen für geschlechterspezifische Lohnunterschiede sind vielfältig: Zum Beispiel geringere Löhne in sogenannten “typischen Frauenberufen”, weniger Berufserfahrung wegen Erwerbsunterbrüchen, deutliche Reduktion der Arbeitspensen nach der Geburt - unter anderem wegen hohen Kitakosten und fehlender Elternzeit, - sowie unerklärbare Lohnungleichheit. Solange Frauen weniger verdienen und eine Trennung für sie ein Armutsrisiko darstellt, dürfen die Unterhaltsbeiträge nicht gekürzt werden, da ansonsten das Wohl des Kindes gefährdet wäre und Frauen in schwierige Situationen gedrängt würden.

Ja, die egalitäre Einbindung des Vaters in das Leben seiner Kinder ist auch aus Gleichstellungsperspektive von grosser Bedeutung. Für viele Väter reicht das übliche Besuchsrecht bei einer Trennung nicht aus: Sie sehen ihre Kinder zu selten und haben zu wenig Möglichkeiten, eine Beziehung aufzubauen. Heute können in vielen Fällen beide Elternteile ihr Leben so gestalten, dass sie ihr Kind abwechselnd betreuen können. Väter beteiligen sich immer mehr an der Kinderbetreuung und Hausarbeit und möchten dies auch nach einer Trennung weiterhin tun. Das kommt auch Frauen zugute. Für die echte Gleichstellung von Frauen befürworten wir die faire Aufteilung von Care-Arbeit. Aktuell übernehmen Frauen laut BFS jedoch immer noch ca. zwei Drittel der Familienarbeit.

Damit Eltern mit alternierender Obhut Erwerbs- und Familienleben unter einen Hut bringen, braucht es aber bessere Rahmenbedingungen für Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Dazu gehört eine qualitativ bessere und erschwinglichere familienergänzende Kinderbetreuung die bezahlbar ist. Zudem sind Tagesstrukturen für Kinder im Schulalter wichtig. Darüber hinaus fordern wir die Einführung der Individualbesteuerung, damit sich Arbeit für verheiratete Frauen lohnt. Letztlich braucht es eine egalitäre Elternzeit, damit beide Eltern von Anfang an gemeinsam Verantwortung übernehmen können.

Abschliessende Bemerkungen:

Dieses Gesetz wäre ein wichtiger Schritt, um das moderne Familienmodell, das von den meisten Müttern und Vätern in der Schweiz angestrebt wird, voranzutreiben. In der Umsetzung ist die Variante 1 mit Prüfung auf Verlangen der alternierenden Obhut als Regelfall vorzuziehen. Wir danken Ihnen herzlich für die Berücksichtigung unserer Stellungnahme.