Wählerinnen sind ab jetzt ein Machtfaktor
Die Ständeratserfolge für Frauen in Aargau, Solothurn und Zürich zeigen: Wer bei seiner Kandidatenwahl die weibliche Stimmbevölkerung übersieht – und Wirtschaft eindimensional definiert –, wird es an der Urne schwer haben.
Die Botschaft wurde eiskalt serviert und sofort. Noch am Wahlsonntag des 22. Oktobers, es war noch nicht 18 Uhr, schrieb die NZZ in ihrem Kommentar zu den Zürcher Ständeratswahlen: «Regine Sauter sollte den Weg freimachen ». Weil sie in absoluten Zahlen deutlich weniger Stimmen holte, solle die FDP sie «aus dem Rennen nehmen» und sich hinter den SVP-Mann Gregor Rutz stellen.
Vielleicht wusste der Autor, dass genau zur selben Zeit anderswo in Zürich sechs Männer zusammenkamen, die sich als Vertreter der Zürcher Wirtschaft verstehen, wie der Tages-Anzeiger recherchiert hat, um in ihrer Kammer Folgendes zu beschliessen: Rutz würde der Kandidat sein, der den bürgerlichen Sitz verteidigt – ihren Sitz, sozusagen. Zur Runde gehörten unter anderem der Präsident des Hauseigentümerverbands, dessen Stadtzürcher Ableger Gregor Rutz selbst präsidiert, der Geschäftsführer des KMU- und Gewerbeverbands, und der stellvertretende Direktor der Zürcher Handelskammer, die eigentlich Regine Sauter führt. Die Kandidatin erfuhr nun quasi über Nacht vom entzogenen Vertrauen für den zweiten Wahlgang – und zog sich, zum Frust des FDP-Kantonalpräsidenten, zurück: «Wir haben die durch Analysen gestützte Auffassung, dass Regine Sauter die besseren Chancen hätte», sagte dieser kurz darauf dem Tages-Anzeiger. Andere Parteimitglieder, die öffentlich Ähnliches äusserten – oder gar der ebenfalls im zweiten Ständerats-Wahlgang antretenden GLP-Kandidatin Tiana Moser ihre Unterstützung zusagten – ernteten heftigen parteiinternen Gegenwind.
Die Wirtschaftsverbände begründeten ihren Entscheid rein arithmetisch – Gregor Rutz hatte im ersten Wahlgang 154'910 Stimmen geholt, Regine Sauter nur 120'571 (und Tiana Moser 105'604). Woran allerdings in diesem Moment offenbar niemand in der Runde dachte: dass rund die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung Frauen sind. Und dass für viele selbst bürgerliche Frauen etliche SVP-Vertreter, darunter auch Gregor Rutz, mit ihrer Familienpolitik und ihrem Politstil nicht wählbar sind. Nur, wer den weiblichen Teil der Wählerschaft kurzzeitig übersieht, kann sich so schnell und so schattenlos für Rutz aussprechen.
Frauen als politischen Machtfaktor nicht mitzudenken, hat lange Tradition. Ebenso wie eine auf die persönlichen Verhältnisse zielende Berichterstattung über Kandidatinnen. Beides, so sollte sich herausstellen, ist in der heutigen Zeit riskant.
Schnüffelzug in die Privatsphäre
Kaum waren die Kandidaturen für den zweiten Wahlgang bekannt, widmeten sowohl die Weltwoche als auch der Tages-Anzeiger der Kandidatin Moser süffige Artikel, die ihr Privatleben und - auch wenn es nicht ganz direkt ausgesprochen wurde - ihre Präsenz als Mutter zum Thema machten. Die Medien thematisierten ihre Wohnverhältnisse, ihre Patchworkfamilie, ihr Leben im Quartier und - bezeichnenderweise - ihr Engagement am Spielfeldrand, wenn ihre Kinder Fussball spielten. Womit man womöglich nicht gerechnet hatte: die neugierig befragten Nachbar:innen stellten sich sofort hinter Moser, und ein Grossteil der Medien verweigerte sich dem übergriffigen Schnüffelzug in die Privatsphäre. Von Gregor Rutz, übrigens, weiss man nicht einmal, ob er Kinder hat.
Es nützte denn auch alles nichts: Moser schaffte den Einzug ins Stöckli fulminant. Die Stimmen kamen nicht nur aus den städtischen Hochburgen Zürich (71%) und Winterthur (65%), sondern beispielsweise auch aus den sogenannten «Goldküsten»-Gemeinden wie Uetikon am See (52%), Meilen (49%) oder Männedorf (56%) und aus den Landgemeinden. Insgesamt gewann Rutz im zweiten Wahlgang nur ein paar tausend Stimmen dazu (159'328), Moser verdoppelte nahezu auf zuletzt 206'493 Stimmen. Mit anderen Worten: eine beachtliche Zahl von Sauter-Wählern entschied sich in der zweiten Runde für Moser. Oder vielleicht eher: Sauter-Wählerinnen. Deren Heimbasis, die FDP Frauen, hatte für den zweiten Wahlgang Stimmfreigabe beschlossen. Ein Akt, für den sie von vielen Männern öffentlich paternalistische Rügen kassierten – so, als hätten die FDP Frauen, die meisten davon erfolgreiche Berufsfrauen aus unterschiedlichen Branchen, einfach nachzuvollziehen, was eine geschlossene Herrenrunde als richtig für die heutige Wirtschaft definiert.
So als wäre eine langjährige Fraktionschefin und Sachpolitikerin – Tiana Moser –, die unter anderem an der ETH forschte, sich für die bilateralen Beziehungen mit Europa und eine tragfähige Wirtschaftspolitik und für eine aktualisierte Energieinfrastruktur einsetzt, und die ausserdem als erwerbstätige Mutter auch die Realitäten vieler berufstätigen Frauen kennt – so, als wäre eine solche Kandidatin nicht eine höchst valable Option für bürgerliche und wirtschaftsnahe Frauen. Die Stimmfreigabe war eine Höflichkeit gegenüber Rutz.
Die Wählerinnen haben eine Stimme, und sie sind, rund 50 Jahre nach der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen, ein Machtfaktor geworden. Das zeigten sie am selben Wahlsonntag auch in anderen Kantonen.
Das Muster: Überparteiliche Allianz schlägt SVP-Mann
Sowohl in Solothurn wie im Aargau stellten sich die Wählerinnen und Wähler parteiübergreifend hinter die etablierten Politfrauen Franziska Roth (SP) und Marianne Binder (Mitte) – und gegen den jeweiligen Gegenkandidaten der SVP. Im Aargau hatten sich bereits nach dem ersten Wahlgang verschiedene Frauenvertreterinnen zusammengetan, um eine reine Männervertretung in Bern zu verhindern.
In Schaffhausen wiederum zieht neben Hannes Germann (SVP) der progressive SP-Mann Simon Stocker in den Ständerat. Dies, nachdem SVP und FDP im zweiten Wahlgang den parteilosen Thomas Minder unterstützten – und die junge FDP-Kandidatin Nina Schärrer zum Rückzug drängten. Gegen ihren Willen, wie sie öffentlich bestätigte.
Für den überparteilichen Frauendachverband alliance F ist klar: die Wählerinnen sind spätestens in den letzten Jahren zu einem Machtfaktor geworden. Wer die Anliegen von Frauen übersieht, wer ihre Lebenswirklichkeit – und die vieler engagierter Väter und Männer – vergisst, wer Wirtschaft und Infrastruktur zu eng und allenfalls auch zu kurzfristig definiert – der hat es inzwischen an der Urne schwer.
Das ist eine gute Nachricht – und alliance F freut sich auf eine engagierte neue Legislatur mit allen neu gewählten und bisherigen Volksvertreterinnen und Volksvertretern.
Flavia Kleiner und Olivia Kühni, alliance F