Vernehmlassung: Genehmigung des Übereinkommens Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation
Gerne beteiligen wir uns an der Vernehmlassung zur Genehmigung des IAO-Übereinkommen Nr. 190, die der Bundesrat am 30. April 2025 eröffnete und bedanken uns für die Möglichkeit teilzunehmen. alliance F ist der überparteiliche Bund der Schweizer Frauenorganisationen. Wir vertreten die Interessen von rund 100 Mitgliederorganisationen und rund 900 Einzelmitgliedern und setzen uns seit 125 Jahren für die Interessen der Frauen und für die Gleichstellung der Geschlechter ein. Wir erlauben uns, mit diesem Schreiben eine Stellungnahme einzureichen und das Übereinkommen aus der Gleichstellungsperspektive zu beurteilen: Die Ratifizierung des IAO-Übereinkommens Nr. 190 und der Empfehlung Nr. 206 durch die Schweiz wird von alliance F in seiner Gesamtheit unterstützt.
Grundsätzliche Haltung von alliance F: Wichtiger Schritt für die Schweiz, um geschlechtsbezogene Gewalt am Arbeitsplatz zu reduzieren.
Das Übereinkommen Nr. 190 wurde am 21. Juni 2019 von der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) unter dem Vorsitz der Schweiz mit Unterstützung aller Delegationen aus der Schweiz angenommen. Die Empfehlung Nr. 206 sowie ein Entschluss zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt wurden ebenfalls mit Schweizer Unterstützung von der Konferenz genehmigt.
Das Übereinkommen ist am 25. Juni 2021 in Kraft getreten. Bisher haben 50 Länder, darunter 19 europäische Länder, das Gesetz angenommen. Die aktuelle Innen- und Aussenpolitik der Schweiz zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt steht im Einklang mit dem Übereinkommen. Als Gastgeberstaat der IAO ist es sehr wichtig, ein Signal zu senden, dass der Multilateralismus noch lebt und von der Schweiz unterstützt wird. Durch die Ratifizierung stärkt die Schweiz ihre internationale Glaubwürdigkeit und ihr Engagement gegen geschlechtsbezogene Gewalt.
Der Bundesrat schreibt in der Botschaft vom 8. Mai 2022 zur Genehmigung des Übereinkommens Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, dass das Schweizer Recht und die gelebte Praxis den Anforderungen des Übereinkommens vollumfänglich entsprechen. Das Gleichstellungsgesetz sowie das Arbeitsgesetz würden bereits heute den
geforderten Schutz gewährleisten. Für die Umsetzung sind daher keine Gesetzesanpassungen erforderlich. Dennoch: Es ist nicht nur die Signalwirkung der Ratifizierung. Wir brauchen auch Fortschritte und mehr Sensibilisierung in diesem Bereich. Eine wirksame Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt gelingt nur mit einer klaren Nulltoleranzpolitik gegenüber sexueller Belästigung.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist in der Schweiz trotz Präventionsmassnahmen ein weit verbreitetes Problem. Dies zeigt auch eine neue Studie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) 2024. Sie kam zu dem Schluss, dass bereits ein Drittel der Arbeitnehmenden von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen war. Nach konkreten Situationen abgefragt, hat sogar schon mehr als die Hälfte der Arbeitnehmenden unerwünschte sexistische und sexuelle Verhaltensweisen erlebt. Frauen, junge Berufstätige und Auszubildene sind besonders betroffen. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz bezeichnet aus rechtlicher Sicht eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und ist als solche durch das Gleichstellungsgesetz ausdrücklich verboten. Arbeitgebende sind gemäss Gleichstellungsgesetz und Arbeitsgesetz verpflichtet, Massnahmen zur Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu ergreifen. In jedem fünften Betrieb gibt es trotz dieser gesetzlichen Verpflichtung keine Präventions- und Interventionsmassnahmen. Für die Prävention sind Sensibilisierung und Aufklärung von zentraler Bedeutung. Die Ratifizierung würde der Umsetzung einen entscheidenden Schub verleihen. Sie würde der Öffentlichkeit ein unmissverständliches Signal vermitteln: Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz werden in der Schweiz nicht toleriert.
Abschliessende Bemerkungen
Um sicherzustellen, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in der Schweiz ernst genommen wird und jede Person ein Arbeitsumfeld frei von Gewalt und Belästigung erwarten kann, würden wir die Ratifizierung des IAO-Übereinkommens Nr. 190 sehr begrüssen. Dieses Übereinkommen wäre ein wichtiger Schritt, um die Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz voranzutreiben. Wir danken Ihnen herzlich für die Berücksichtigung unserer Stellungnahme.